Bei nahezu jeder Interaktion mit der Umwelt ist der Mensch in höchstem Maße auf den Sehsinn angewiesen. Solch eine Interaktion schließt häufig eine motorische Reaktion als Antwort auf einen visuellen Reiz ein, wobei jedoch die motorische Reaktion an sich bereits die sensorischen Informationen des visuellen Systems verändern kann. Dies gilt insbesondere für diejenigen Augenbewegungen, die für das hochauflösende Sehen unentbehrlich sind, zugleich aber die häufigsten und größten Unterbrechungen des visuellen Informationsflusses zwischen Auge und Gehirn verursachen. Im Fokus unserer Forschung steht daher die Frage welchen Einfluss Augenbewegungen auf die visuelle Verarbeitung haben und inwiefern sie darüberhinaus der visuellen Wahrnehmung dienlich sein können. Mit Hilfe verschiedenster Methoden, unter anderem Aufzeichnung und fokale Stimulierung neuronaler Aktivität, Computer-gestützte Hirnsimulationen und sorgfältige Verhaltenskontrolle, versuchen wir den funktionalen Beitrag individueller Gehirnschaltkreise zur Koordinierung von Wahrnehmung und Handlung zu verstehen. Neben der Erforschung des Sehsinns beleuchten unsere Untersuchungen auch die Frage wie neuronale Aktivität, die über mehrere Hirnregionen hinweg verteilt ist, arbeitet, um unser Verhalten zu steuern.
Die Rolle und die Entstehung von Fixations-Augenbewegungen
Wann immer wir auch ein uns interessierendes Objekt fixieren, unsere Augen stehen niemals still. Denn es kommt selbst während der Blick-Fixation zu verschiedenen Typen von Fixations-Augenbewegungen, darunter sogenannte ‚Mikrosakkaden‘ und ‚langsame Mikrobewegungen‘. Mikrosakkaden sind mikroskopisch kleine Versionen von sakkadischen Augenbewegungen, welche wir im Alltag mehrmals pro Sekunde ausführen, um unsere Umgebung abzusuchen. Sie bewegen unser Auge nur so minimal, dass das Abbild des Objekts, das fixiert wird, sich nicht von der Fovea, dem Ort des schärfsten Sehens, verschiebt. ‚Langsame Mikrobewegungen‘, auch ‚Drifts‘ genannt, sind langsame und mäandernde Bewegungen der Augen, die zwischen zwei aufeinanderfolgenden Sakkaden oder Mikrosakkaden durchgeführt werden. Obwohl Mikrosakkaden und Drifts bereits vor vielen Jahrzehnten entdeckt wurden, sind die Mechanismen des Gehirns, welche diese Augenbewegungen steuern, weitestgehend unbekannt. Durch die Verwendung von besonderen Aufnahmetechniken zur Messung neuronaler Aktivität sowie durch die gezielte Inaktivierung von Neuronenpopulationen in Verbindung mit Computermodellen untersuchen wir die Mechanismen der Entstehung dieser Augenbewegungen. Unser langfristiges Ziel ist es, die gesamte Bandbreite der für Fixations-Augenbewegungen verantwortlichen Steuerungsmechanismen des Gehirns zu enthüllen, um so zu verstehen, wann und warum welche Art von Augenbewegung ausgelöst wird.
Perzeptuelle Stabilität angesichts schneller Augenbewegung
Jede Augenbewegung, egal wie klein, verändert das Abbild der Umwelt auf der Netzhaut. Eine simple Selbstbeobachtung genügt jedoch, um festzustellen, dass wir eine stabile Welt wahrnehmen, auch wenn wir unsere Augen und Körper bewegen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Veränderungen des visuellen Systems in Folge von Augenbewegungen zu verstehen, um zu begreifen warum wir trotz kontinuierlich ausgeführter Augenbewegungen unsere Umwelt als stabil empfinden.
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, untersuchen wir die visuelle Sensitivität von Neuronen im Gehirn während Augenbewegungen durchgeführt werden. So haben wir beispielsweise herausfinden können, dass die sensorische Aktivität im Colliculus superiores (SC) — einer Hirnstruktur, die der visuellen Verarbeitung und der motorischen Steuerung dient — während einer Mikrosakkade deutlich unterdrückt wird. Die Unterdrückung sensorischer Aktivität ist eine Möglichkeit perzeptuelle Stabilität zu erzeugen, und sie führt zu einigen interessanten Fragen nach weiteren Veränderungen in Wahrnehmung und neuronaler Aktivität während Augenbewegungen.
Augenbewegungen im Hinblick auf Wahrnehmung, Handlung und Denken
Ein besonderes Merkmal unserer Forschung ist die Entwicklung und Verwendung von Verhaltensaufgaben mit visuellen Stimuli, die komplexer sind als die üblicherweise in der okulomotorischen Forschung eingesetzten minimalistischen Ansatzpunkte. Ähnlich der Szenen in vielen natürlichen menschlichen Wahrnehmungserlebnissen erfordern solche visuellen Stimuli einen Informationstransfer von der sensorischen zur motorischen Domäne. Daraus resultieren wichtige Fragen nach den neuronalen Mechanismen, die solchen Transformationen zugrunde liegen.
Eine solche Frage bezieht sich beispielsweise auf die Funktion des SC. Der SC spielt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Augenbewegungen und seine Lage scheint perfekt zu sein als Schnittstelle für sensorische und motorische Verarbeitungssignale. Eine weit verbreitete Annahme zur Rolle des SC von Primaten, die auch durch anatomische Daten gestützt wird, ist seine motorische Kontrollfunktion mit Blick auf die Erhaltung der Fixation und die Generierung von Sakkaden. Mit Hilfe einer Kombination von Experimenten und Modellierungsverfahren konnten wir überzeugende Anhaltspunkte für eine weitergreifende Rolle des SC finden, die immer noch im Einklang mit seiner Anatomie stehen. Unserer Ansicht nach liefert der SC zum einen eine kontinuierliche Echtzeit-Schätzung von Verhaltens-relevanten Zielgebieten für multiple Augenbewegungen und besitzt zum anderen wichtige Fähigkeiten für die Analyse visueller Szenen.
Demzufolge beruht der Beitrag dieser Struktur zu Fixation und Sakkaden nicht alleine auf der Bewegungssteuerung, sondern vor allem auf der Repräsentation zentraler Zielorte. Diese Ergebnisse bilden einen neuen konzeptionellen Rahmen für unser Verständnis der Beteiligung des SC an übergeordneten sensorischen und kognitiven Prozessen und sie dienen als Ausgangspunkt für zukünftige Untersuchungen zur Interaktion von selbst kleinsten Augenbewegungen mit diesen komplexen Prozessen.
Eine Liste aller Publikationen finden Sie unter http://hafedlab.org/publications/
- Dr. Thomas Münch (Werner Reichardt Centre for Integrative Neuroscience, Tübingen): Der Einfluss von Augenbewegungen auf die visuelle Verarbeitung in der Retina
- Dr. Masatoshi Yoshida (National Institute of Physiological Sciences, Japan): Visuelle Einflüsse auf Mikrosakkaden unter normalen und 'Blindsight' Bedingungen
- Prof. Brian Corneil (University of Western Ontario, Canada): Kortikale Kontrolle von Mikrosakkaden
- Prof. Dr. Eberhart Zrenner (Institute for Ophthalmic Research, Tübingen): Die Rolle von Augenbewegungen bei der Wahrnehmungsleistung von sehbehinderten Patienten mit Retina-Implantaten
- Prof. Dr. Frank Schaeffel (Institute for Ophthalmic Research, Tübingen): Stabile Wahrnehmung bei kontinuierlicher Augenbewegung
- Prof. Dr. Klaus-Peter Hoffmann (Ruhr University Bochum, Germany): Foveale visuelle Repräsentationen im superioren Colliculus von Primaten
- Prof. Dr. Philipp Berens (Institute for Ophthalmic Research, Tübingen): Maschinelles Lernen und Augenbewegungserkennung
- Prof. Dr. Hans-Peter Thier (Hertie Institute for Clinical Brain Research, Tübingen): Subkortikale und kortikale Substrate von Interaktionen zwischen Kognition und Mikrosakkaden
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