Professor Dichgans, das Zentrum für Neurologie wurde auf Ihre Initiative hin gegründet. Sie sind Gründungsdirektor. Was hat Sie vor zwanzig Jahren bewogen, dieses Modellprojekt auf den Weg zu bringen?
Dichgans: Der Hauptgrund war die mangelnde Qualität der klinischen Forschung in Deutschland am Ende der 1990er-Jahre. Es gab eindeutige Defizite bei der Zahl der Publikationen in erstrangigen Zeitschriften, der Zahl der internationalen klinischen Studien unter deutscher Leitung und beim Zitieren klinischer Studien aus Deutschland in der Fachliteratur. Das führte zur Veröffentlichung der Denkschrift "Klinische Forschung", an der ich als Vizepräsident der DFG beteiligt war. Die Denkschrift zeigte unmissverständlich, dass die klinische Forschung in Deutschland keine Institutionalisierung besaß, dass dedizierte Mittel für die Finanzierung der Forschung fehlten und dass Forschungsflächen nicht nach Leistung vergeben wurden. Es fehlte auch an einer profunden wissenschaftlichen Ausbildung für die konkurrenzfähige Forschung an deutschen Universitätskliniken und an Karriereoptionen für hauptberuflich tätige Forscherinnen und Forscher in der Medizin. Es war klar, dass Forschung und Patientenversorgung enger miteinander verzahnt werden müssen, damit die Kranken schneller von den Erkenntnissen profitieren. Diese schonungslose Analyse ließ keinen Zweifel daran, dass die klinische Forschung in Deutschland einen tiefgehenden Strukturwandel brauchte. Nötig waren flachere Hierarchien mit vielen spezialisierten Forschungsgruppen, die eigenständig arbeiten und publizieren.
Von dieser Einsicht bis zur Gründung eines Zentrums für Neurologie mit Modellcharakter ist es ein weiter Weg. Man braucht auch viel Geld. Wie kam es dazu, dass die Gemeinnützige Hertie-Stiftung diesen Wandel finanzierte?
Dichgans: Das Engagement der Hertie-Stiftung ist das Ergebnis einer glücklichen Fügung. Das kann man nicht anders sagen. Ich war entschlossen, den Strukturwandel in meinem eigenen Einflussbereich voranzutreiben. Als ich wegen einer anderen Angelegenheit mit der Hertie-Stiftung sprach, bot sich die Gelegenheit, mit dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Dr. Michael Endres auch über den dringend nötigen Strukturwandel für die klinische Forschung in Deutschland zu sprechen. Die Stiftung war sehr schnell bereit, diesen Strukturwandel am Neurologischen Universitätsklinikum in Tübingen mit der Gründung eines eigenen Forschungsinstituts und der Investition von zunächst 43 Millionen DM Startkapital über zehn Jahre zu finanzieren. Unterschätzt hatte ich allerdings die Widerstände, die dieses Angebot in den Reihen der Medizinischen Fakultät auslöste. Viele Kolleginnen und Kollegen befürchteten damals, dass das geplante Zentrum für Neurologie die Balance zwischen den Fächern verschieben würde und eine höhere Grundausstattung zu Lasten der anderen Fächer einfordern könnte. Deshalb stand das Projekt mehrmals auf der Kippe. Entscheidend für den Erfolg waren die Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und des Rektorats. Beide Institutionen erkannten, dass das Zentrum Modellcharakter für die deutsche Universitätsmedizin haben würde und dem Exzellenzstatus der Universität Tübingen dienen würde.
Professor Heinze, Sie sind Ärztlicher Direktor und Vorsitzender des Klinikumvorstands am Universitätsklinikum Magdeburg und Kuratoriumsvorsitzender des Zentrums für Neurologie in Tübingen. Wünschen Sie sich ein vergleichbares Zentrum für Neurologie in Magdeburg?
Heinze: Das Tübinger Zentrum hat eine hohe Vorbildfunktion für die Bundesrepublik. Das hat der Wissenschaftsrat in seiner Stellungnahme 2015 gewürdigt. Ich orientiere mich in vielerlei Hinsicht an den Grundgedanken des Tübinger Zentrums. Ich habe schon als Direktor der Neurologie in Magdeburg in dieser Klinik verschiedene Bereiche eingerichtet, die den Abteilungen des Tübinger Zentrums ähneln mit dem Ziel, dass die jeweiligen Leiterinnen und Leiter ihre Bereiche selbständig organisieren. Als Vorstand des Gesamtklinikums legen wir großen Wert auf eine fundierte klinisch-wissenschaftliche Weiterbildung unserer Mitarbeitenden. Wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Mitarbeitenden die Doppelbelastung Klinik und Forschung auf sich nehmen, ist eine hohe Eigenmotivation – und das bedeutet, dass erfolgreiche Forschung und Entwicklung in der jeweiligen Laufbahn strukturell verzahnt sein müssen. Niemand möchte nur für das Ansehen der Chefin oder des Chefs arbeiten.
Das Zentrum für Neurologie zeigt, dass eine breite Regelversorgung und kompetitive Forschung auch bei flacher Hierarchie möglich sind. Warum scheint es so, dass in der deutschen Universitätsmedizin trotzdem vielerorts noch das alte Hierarchiedenken dominiert?
Heinze: Neue Strukturen und Organisationsformen sind nur ein Teil einer forschungsstarken, auf Translation ausgerichteten Universitätsmedizin. Beides muss auch angenommen und gelebt werden – wie im Zentrum für Neurologie in Tübingen. Das setzt aber einen kulturellen Wandel in den Köpfen der Leitungsebene voraus, der sich vielerorts nur quälend langsam vollzieht. Viele halten nach wie vor an den alten Rollenbildern und -zuschreibungen fest, sehr zum Nachteil des klinisch-wissenschaftlichen Nachwuchses. Es braucht viele Vorbilder, die diesen Wandel leben, und es braucht insbesondere Einrichtungen wie das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, die zeigen, welche Spitzenleistungen mit flachen Hierarchien und ohne klassische Ordinariatsstruktur möglich sind.
Was können deutsche Spitzenzentren von vergleichbaren Einrichtungen im Ausland lernen?
Heinze: Die Vereinigten Staaten haben das Leistungsprinzip auch für die Leitungsebene fest verankert. Das heißt im Klartext: ein intensives Assessment bei der Berufung und ein befristeter Arbeitsvertrag, der nach einer positiven Evaluation verlängert wird. Dann sitzen alle in einem Boot. In einer solchen Situation hat jeder und jede in der Abteilung ein starkes Interesse daran, dass die gesamte Abteilung reüssiert. Ich bin der festen Überzeugung, dass es auch hierzulande einen starken Schub geben würde, wenn die Leitungsebene in den Wettbewerb einbezogen würde und dieser Wettbewerb auch strukturell verankert würde. Notwendig wären auch eine radikale Entschlackung und Reform der Verwaltung. Die Abläufe sind oft unfassbar komplex und schwerfällig. Da bleibt vieles auf der Strecke. Auch hier ist das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung ein Vorbild. Schon bei seiner Gründung war klar, dass es eine eigene Geschäftsführung geben muss, die die Fäden mit in der Hand hält.
Dichgans: In den Vereinigten Staaten sind auch Belohnungen und Anreize fest verankert. In einem Spitzenzentrum können nicht alle gleichbehandelt werden. Anreize und Belohnungen sind der Nährboden, auf dem Motivation gedeiht. In Frage kommen zum Beispiel die frühe Selbstständigkeit, die leistungsabhängige Zuteilung von Flächen, aber auch weitere Forschungsgelder oder gar Leistungsprämien.
Bei der Erweiterung und dem Ausbau seines Forschungs- und Versorgungsspektrums setzt das Zentrum für Neurologie auf systembasierte Neuromedizin und molekulare Therapien sowie auf Früherkennung, Prävention und Rehabilitation. Ist das die Basis für die Neuromedizin der Zukunft?
Heinze: Das Zentrum festigt mit diesen Themen seinen Anspruch auf eine internationale Spitzenposition und schafft den Spagat, diese wichtigen Zukunftsfelder über seine sechs Abteilungen in einer einzigen Klinik zu bündeln. Mit der Neuroprothetik und den Systemneurowissenschaften knüpft das Zentrum an die starke Computational Neuroscience in Tübingen und Umgebung an. An molekularen Therapien und Gentherapie führt schon heute kein Weg mehr vorbei. Ich persönlich verweise allerdings auch immer darauf, dass der Geist mehr ist als das Gehirn. Neuroreduktion ist nicht der Weg – aber das weiß in Tübingen jede und jeder.
Dichgans: Auch ich sehe das Zentrum für Neurologie mit diesen Themen auf einem sehr guten Weg. Diese Zukunftsfelder garantieren eine klare Fortführung der bisherigen Erfolgsgeschichte. Es wird wichtig sein, darauf zu achten, dass sich die Grundlagenforschung stets an den klinischen Fragestellungen orientiert. Die Entscheidung über Neuberufungen und die Einrichtung von Forschungsgruppen bedarf einer strengen Qualitätskontrolle durch das Kuratorium.
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Bild 1: Prof. Dr. Johannes Dichgans, © HIH, Fotograf: Fabian Zapatka
Bild 2: Prof. Dr. Hans-Jochen Heinze, © Melitta Schubert/Universitätsmedizin Magdeburg
Bild 3: Anders von Anfang an, © HIH, Fotograf: Fabian Zapatka