Spiegelneurone sind Nervenzellen, die erregt werden, wenn man eine Handlung, wie zum Beispiel nach einem Glas Wasser zu greifen, selbst ausführt, oder wenn man jemand anderen eine solche Handlung ausführen sieht. Wegen dieser faszinierenden Eigenschaft wurde angenommen, dass Spiegelneurone beobachtete Handlungen simulieren, sich also so verhalten, als ob man die beobachtete Handlung selbst anstelle des anderen ausführen würde. Das könnte dazu dienen, sich in den anderen hineinzuversetzen, mitzufühlen und zu verstehen, was der andere tut. Diese Interpretation führte nach der Entdeckung der Neurone im Affen in den 1990iger Jahren zu einem regelrechten Hype. Spiegelneurone wurden auch im Menschen gefunden und in mehr und mehr Hirnregionen, so dass ihnen eine Rolle für eine zunehmende Zahl an psychologischen Fähigkeiten zugeschrieben wurde, allen voran für die Fähigkeit zur Empathie. Entsprechend wurde angenommen, dass bei Erkrankungen wie Autismus, die mit einem Mangel an Empathie einhergehen, die Ursache in einer Schädigung der Spiegelneurone liegt.
Diese spannenden, sehr weitreichenden Deutungen sind allerdings nicht gut belegt. Es ist zum Beispiel unklar, ob die Voraussetzung dafür, dass Spiegelneurone beobachtete Handlungen simulieren, überhaupt gegeben ist. Wenn Spiegelneurone beobachtete Handlungen simulieren, dann müssen sie sich bei der Handlungsbeobachtung für die gleiche Handlung interessieren wie bei der Handlungsausführung. Anders gesagt, der Handlungscode muss bei Ausführung und Beobachtung der gleiche sein.
Ob diese entscheidende Voraussetzung tatsächlich erfüllt ist, hat ein Forscherteam um Dr. Jörn Pomper und Prof. Peter Thier des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung (Kognitive Neurologie) experimentell untersucht. Dazu wurden Rhesusaffen darauf trainiert, an einem baugleichen Objekt drei verschiedene Handlungen durchzuführen: das Objekt anzuheben, es zu drehen oder es zur Seite zu schieben. In einer Beobachtungsbedingung sahen die Affen, wie ein Mensch die gleichen Handlungen ausführte. Der Zusammenhang zwischen der Art der Handlung und der Entladungsrate der Neurone wurde bestimmt und zwischen Ausführungs- und Beobachtungsbedingung verglichen.
Das Ergebnis war eindeutig: von Ausnahmen abgesehen kodieren Spiegelneurone beobachtete Handlungen ganz anders als ausgeführte Handlungen. Damit ist die Voraussetzung dafür, dass beobachtete Handlungen in Spiegelneuronen simuliert werden, nicht erfüllt. Die Funktion von Spiegelneuronen kann also nicht in einem Handlungsverständnis durch eine einfache Simulation liegen. Stattdessen ist davon auszugehen, dass Spiegelneurone in komplexere Mechanismen eingebunden sind als ursprünglich angenommen. Daraus könnten sich unterschiedliche Funktionen ergeben. So könnten Spiegelneurone nach Einschätzung von Studienleiter Dr. Pomper dazu beitragen, aus der Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen besser zu lernen, welche Handlungen sich für einen selbst lohnen und welche nicht.
Link zum Paper: https://elifesciences.org/articles/77513