Das traditionelle Instrument der Klinischen Neurophysiologie ist das EEG – die Ableitung der Gehirnaktivität über Elektroden auf der Kopfhaut. Die rasanten Entwicklungen in der Elektronik, der Computertechnik, der Digitalisierung, bei Big Data und künstlicher Intelligenz haben dafür gesorgt, dass das klassische EEG heute sehr viel mehr kann als früher. Das hat der Klinischen Neurophysiologie einen enormen Aufwind beschert. „Sie ist ein absolutes Zukunftsfach geworden“, sagt Professor Ulf Ziemann mit Blick auf die diesjährige Jahrestagung der DGKN. „Mit ihren neuen Methoden und Entwicklungen können wir die Signale des Gehirns sehr genau auslesen und aufgreifen. Damit ist die Klinische Neurophysiologie nicht nur diagnostisch relevant, sondern sie wird auch therapeutisch relevant. Das eröffnet völlig neue Möglichkeiten, so Professor Ziemann weiter. „Indem wir die verschiedenen Verbindungen zwischen den Nervenzellen nachverfolgen, also ihre sogenannte Konnektivität erfassen, können wir zeigen, wie einzelne Leistungen des Gehirns durch das Zusammenspiel dynamischer Netzwerke entstehen. Deshalb sind die Ausfälle nach einem Schlaganfall Netzwerkerkrankungen, die sich nicht nur am Ort der Schädigung bemerkbar machen, sondern auch in anderen Teilen des Gehirns“, so der Neurologe weiter. Diese Erkenntnis berücksichtigen wir bei der Therapie.“
Professor Ziemann wird bei der Pressekonferenz zur DGKN-Jahrestagung daher über die Entwicklung eines Helms sprechen, der die Netzwerke des Gehirns gezielt und schmerzfrei von außen mit magnetischen Impulsen stimuliert. Dadurch sollen Schlaganfall-Patientinnen und Patienten besser auf die Rehabilitation vorbereitet werden und bessere Ergebnisse erzielen. Der Helm wird die Großhirnrinde der Betroffenen allerdings nicht nach einem „One fits all“-Protokoll stimulieren, sondern auf der Basis der aktuellen Gehirnaktivität. Die individuelle Aktivität wird über ein EEG abgeleitet und dann auf Basis dieser Daten in Echtzeit stimuliert – und zwar über die gesamte Hirnrinde hinweg, nicht nur über einen engen Bereich. Das ist die therapeutische Konsequenz des Netzwerkkonzepts. Dr. Christoph Zrenner vom HIH wird bei der Jahrestagung weitere Details dieser transkraniellen Magnetstimulation vorstellen. Den Helm entwickeln Kolleginnen und Kollegen der finnischen Aalto Universität im Rahmen des „ConnectToBrain“ Synergy-Projekts, das vom Europäischen Forschungsrat gefördert.
Über neue Entwicklungen bei der Behandlung von anfallsartigen Erkrankungen, wie der Epilepsie, wird Professor Holger Lerche vom HIH und der neurologischen Universitätsklinik Tübingen bei der Pressekonferenz sprechen. Wichtige Zielmoleküle sind Ionenkanäle. Diese transportieren geladene Teilchen wie Natrium-, Kalium-, Kalzium- oder Chlorid-Ionen entlang der Membran der Nervenzellen und bauen damit die Potentialdifferenz auf, die für die elektrische Erregbarkeit der Nervenzellen verantwortlich ist. Unregelmäßigkeiten rufen verschiedene Erkrankungen hervor. Dabei können die Ionenkanäle übereifrig, aber auch zu träge sein. Vor der Entwicklung einer Therapie müsse klar sein, was die molekulare Ursache der jeweiligen Erkrankung sei, sagt Professor Lerche. „Medikamente, die einen Ionenkanal blockieren, wirken bei einer Überfunktion hervorragend – etwa bei Epilepsien, neuropathischen Schmerzen, oder erblich bedingten Formen der Migräne – bei einer Unterfunktion würden sie die Krankheitssymptome jedoch nur weiter verstärken und sollten dann nicht eingesetzt werden. Ziel sollte immer eine an den Ursachen ansetzende Therapie sein“.
Die 64. Jahrestagung der DGKN hätte eigentlich schon im März in Baden-Baden stattfinden sollen, wurde dann aber wegen der Corona-Pandemie abgesagt. Die Fachgesellschaft hofft nun im kommenden Jahr für die 65. Jahrestagung wieder auf eine Präsenzveranstaltung, die unter dem Motto: „Messen, Monitoren, Modellieren, Modulieren“ für den 10.-12. März 2021 in Frankfurt am Main geplant ist.
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Klinik für Neurologie der Universität Tübingen und Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
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