Kaum drei Pfund. Mehr wiegt unser Gehirn nicht. Aber es ist eine unglaublich geballte Macht. 100 Milliarden Nervenzellen sind über 280 Billionen Kontakte, die Synapsen, zu einem gigantischen Kommunikationsnetzwerk verknüpft, das uns denken, sprechen, fühlen, erinnern, riechen, sehen, schmecken und gehen lässt. Die Zentrale in unserem Kopf gilt als die komplexeste Struktur des Universums und fordert die Wissenschaft seit jeher heraus. „Dunkel sind des Gehirnes Bausteine“, schrieb um 1700 Giovanni Fantoni, Professor der Universität Turin, zeitlebens um ein Verstehen des Gehirns bemüht, „noch dunkler die Krankheiten, am dunkelsten die Vorgänge darin.“
Mittlerweile haben die Forschenden mehr Licht ins Dunkel gebracht, aber dunkel sind die Vorgänge immer noch, etwa bei bösartigen Hirntumoren wie dem Glioblastom. Die Chirurginnen und Chirurgen können den diffus in gesundes Hirngewebe einwachsenden Tumor mit seinen vielen versprengten Tumorzellen nicht vollständig entfernen. Trotz Operation und anschließender Strahlen- und Chemotherapie kehrt das Glioblastom sehr häufig schnell zurück, weil seine unkontrolliert wachsenden Zellen extrem widerstandsfähig und vielgestaltig sind. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist das Glioblastom nicht heilbar. Daran etwas grundsätzlich ändern zu wollen, ist eine große wissenschaftliche und medizinische Herausforderung. Ghazaleh Tabatabai, Professorin für Neurologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Ko-Direktorin am Hertie-Institut, hat sich dieser Herausforderung angenommen, weil sie fasziniert ist von der Komplexität des Gehirns und weil sie etwas tun will „mit Menschen und für Menschen.“ Gerade wenn etwas schwer und noch vieles unbekannt sei, lohne sich der Einsatz, betont sie. Ghazaleh Tabatabai ist für diese Aufgabe in doppelter Weise gerüstet: als Ärztin, die in der Neurologie der Universitätsklinik jeden Tag Kontakt mit hilfesuchenden Patientinnen und Patienten hat, und als promovierte Neurowissenschaftlerin in den Labors des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung. Diese enge personelle Verknüpfung von Klinik und Grundlagenforschung soll gewährleisten, dass im Labor erarbeitete wissenschaftliche Erkenntnisse den Kranken so schnell wie möglich zugutekommen. Für den rascheren Übergang, die bessere Translation von Forschungsergebnissen in die Praxis, stellt die Hertie-Stiftung mit dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung ein strukturelles und organisatorisches Brückenglied bereit. Tübingen ist auch Partnerstandort im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung. „Es gibt noch sehr viel zu tun“, gesteht Ghazaleh Tabatabai unumwunden ein. Aber es sei auch Bewegung in die Diagnose und Therapie bislang nur unbefriedigend zu behandelnder Tumore wie des Glioblastoms gekommen. „Selbst wenn es nur kleine Schritte sind“, betont Ghazaleh Tabatabai. „Aber wir kommen voran.“
Der Grund für diesen helleren Blick in die Zukunft sind Fortschritte in der Krebsforschung, die Tumore mittlerweile bis aufs Molekül genau beschreiben kann. „Jeder Tumor ist einzigartig wie der Mensch“, weiß Tabatabai. Diese Einzigartigkeit lässt sich mit modernen bildgebenden Verfahren noch nicht detailliert darstellen. Hochtechnisierte molekularbiologische Analysen hingegen zeigen zunehmend auf, wann und wie sich Gene verändern und Zellen aus der komplexen Ordnung des Lebens ausscheren und zerstörerisch wachsen lassen. „Dieses neue Wissen eröffnet auch neue Therapiekonzepte“, erklärt Tabatabai. Schon heute etwa können Patientinnen und Patienten molekular definierten Subgruppen zugeordnet werden, die eventuell bald besser zu behandeln sind. Die genaue Kenntnis der Veränderungen, die normale Zellen zu bedrohlichen Krebszellen machen, lässt zudem auf neue, gezielt ansetzende Medikamente hoffen.
Personalisierte Therapie
Der auf den Erkenntnissen der molekularbiologischen Forschung fußende Grundgedanke ist eine personalisierte Therapie, eine Behandlung, die nicht wie bislang alle Patientinnen und Patienten unterschiedslos über einen Kamm schert, sondern individuelle molekulare Tumorcharakteristika – sogenannte Biomarker – einbezieht. Solche Marker zu finden, ist ein Schwerpunkt der Forschungsarbeiten von Ghazaleh Tabatabai und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das können therapierelevante Marker sein, die Tumorzellen idealerweise eindeutig kennzeichnen und sich als Angriffsziele für präzise zugreifende Medikamente anbieten. Oder es handelt sich um prognostische Marker, mit denen sich die künftige Entwicklung der Erkrankung besser abschätzen lässt. Unlängst haben die Tübinger Forschenden beispielsweise einen prognostischen Biomarker für Meningeome in einer Studie geprüft. Während manche dieser von der Hirnhaut ausgehenden Tumore langsam wachsen und nach der Operation nicht wieder auftreten, verhalten sich andere aggressiv und kehren zurück. Voraussagen ließ sich der Verlauf bisher nicht. Die Tübinger Forschenden um Ghazaleh Tabatabai konnten in ihrer Studie zeigen, dass ein Biomarker dabei helfen kann, auf den weiteren Krankheitsverlauf rückzuschließen.
Ein weiteres Beispiel für das stete Vorangehen sind neue zellbasierte Strategien, mit denen Medikamente besser und gezielter ins Gehirn gebracht werden sollen. Das wichtige Organ im Kopf wird natürlicherweise von der Blut-Hirn-Schranke vor Molekülen geschützt, die eindringen und womöglich Schaden anrichten: Diese biologische Schranke selektiv zu öffnen, damit gezielt ansetzende Medikamente den Tumor unbehindert erreichen und vor Ort wirken können, wäre ein die Behandlung optimierender Schritt. Und noch eine fatale Eigenart der Glioblastomzellen steht auf der Forschungsagenda der Tübinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Wie schaffen es die entarteten Zellen, eine Therapie abzuwehren, resistent zu werden? Heute ist bekannt, dass sich die Tumorzellen selbst Fluchtwege eröffnen, indem sie bestimmte molekulare Signalketten an- oder ausschalten. Wenn man diese Fluchtwege und ihre molekularen Mechanismen genau kennt, erklärt Ghazaleh Tabatabai, lässt sich die verhängnisvolle Resistenz möglicherweise durchbrechen.
Die körpereigene Präzisionswaffe aktivieren
Große Hoffnungen ruhen auf Immuntherapien, also den Versuchen, die körpereigene Abwehr in den Kampf gegen Tumorerkrankungen einzubeziehen. Das Immunsystem kann eine höchst wirksame Waffe gegen Krebszellen sein – es verhält sich jedoch allzu lange allzu tolerant gegenüber den gefährlich veränderten Zellen. Erschwerend hinzu kommt, dass sich Krebszellen perfide tarnen und die Abwehr unterlaufen können. Ein Ausweg könnte es sein, dem Immunsystem die lebensgefährliche Bedrohung aus den eigenen Reihen derart unmissverständlich zu kommunizieren, dass es seine fatale Duldung aufgibt und all seine Mittel geballt gegen Krebszellen einsetzt. Dieses Ziel könnte mit einer aktivierenden Impfung erreicht werden: Dem Immunsystem wird beispielsweise ein Eiweiß präsentiert, das auch Krebszellen kennzeichnet und die Abwehrstrategen kompromisslos auf den Plan rufen soll. Eine derartige Impfung mit verschiedenen Eiweißen (Multipeptid-Impfung) und einem eigenen, in Tübingen entwickelten Immunstimulator wird derzeit unter Leitung von Ghazaleh Tabatabai in der Universitätsklinik Tübingen in einer ersten Studienphase bei Glioblastomkranken erprobt, die einer bestimmten, molekular definierten Subgruppe angehören.
„Wir leben in einer spannenden Zeit – es passiert viel“, unterstreicht Ghazaleh Tabatabai. Zehn Jahre lang habe sich in den medizinischen Leitlinien zur Diagnose und Behandlung bösartiger Hirntumore kaum etwas geändert, die neuen personalisierten Therapiekonzepte aber zeigen jetzt Perspektiven auf; zum Teil sind sie auch schon in der klinischen Gegenwart angekommen. Heute Nachmittag etwa wird die Ärztin und Wissenschaftlerin am „molekularen Tumorboard“ teilnehmen, ein bereits im Jahr 2016 in Tübingen aufgebautes Konsilium unterschiedlichster Fachrichtungen, von der Inneren Medizin, Neurologie und Neurochirurgie über die Radiologie, Pathologie, Neuropathologie, Nuklearmedizin und Pharmakologie bis hin zu Molekularbiologie, Genetik und Bioinformatik. Zusätzlich zum klassischen neuroonkologischen Tumorboard – einem zentralen Herzstück der Kommunikation im klinischen Alltag – tritt das molekulare Tumorboard zusammen, um das individuelle molekulare Profil des Tumors zu betrachten und zu überlegen, ob und wie es für den Patienten oder die Patientin in ein passgenaues Therapiekonzept umgewandelt werden kann.
Wider den Nihilismus
Noch eher bescheiden klingt, was sich Ghazaleh Tabatabai als Nahziel wünscht – „bald einen weit verbreiteten Konsens darüber zu haben, dass Nihilismus bei der Behandlung neuroonkologischer Erkrankungen nicht zielführend ist.“ Auch die Bereitschaft, gemeinsam und nicht nur im selbstbezogenen Wettbewerb an einer Lösung zu arbeiten, könnte ihrer Ansicht nach noch ein wenig wachsen. In den nächsten fünf bis zehn Jahren, wagt sie einen Blick in die Zukunft, könnte es vielleicht so weit sein, dass „wir sogar wirksame biomarkergestützte Therapien haben, die wir in Kombination einsetzen können.“ Den Krebszellen würde so mit verschiedenen Waffen und von verschiedenen Seiten aus Einhalt geboten. Aus einer tödlichen Bedrohung wie dem Glioblastom könnte auf diese Weise eine chronische, langfristig beherrschbare Erkrankung werden. Den meisten Patienten dürfte diese Aussicht genügen.
Und noch etwas ist der 47-jährigen engagierten Ärztin und Wissenschaftlerin wichtig: „Ich würde mir wünschen, dass wir mit unseren Forschungsergebnissen und klinischen Studien nicht nur in den reichen Nationen wirksam sind, sondern auch ärmere Länder erreichen.“ Auf einem Kongress, erinnert sie sich, habe sie von einer Studie gehört, nach der weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung von den neuen Ergebnissen der Wissenschaft profitiere. Auch hier, betont Ghazaleh Tabatabai, gelte es eine Brücke zu schlagen.
Autorin: Claudia Eberhard-Metzger
Bild 1-3: © HIH, Fotograf: Fabian Zapatka