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„Es geschah am 13. April des Jahres 1737, als das ganze Haus von einem dumpfen Schlag erbebte. Etwas Massiges und Schweres musste im obern Stockwerk hingeschmettert haben.“ Erschrocken läuft der Diener die Treppen empor und findet seinen Herrn, Georg Friedrich Händel, stöhnend und röchelnd auf dem Bogen liegen. Kurz zuvor war der Komponist „in voll saftiger Wut aus der Probe gekommen, prallrot das Gesicht vom aufwallenden Blut und dick die Aderssträhnen an den Schläfen.“ Der Arzt wird herbeigerufen. Dr. Jenkins hebt den rechten Arm seines Patienten. Er fällt wie tot zurück. Er hebt den linken Arm, der bleibt in der neuen Lage. Auch das rechte Auge sieht starr, das linke ist belebt. Jetzt weiß Dr. Jenkins genug. „Apoplexia“, stellt er fest. „Die rechte Seite ist gelähmt.“ Und auf die Frage hin, ob Händel wieder genesen wird, antwortet er ausweichend: „Vielleicht. Alles ist möglich.“
In seiner berühmten Erzählung „Georg Friedrich Händels Auferstehung“ hat Stefan Zweig den Schlaganfall – medizinisch Apoplex, eine plötzliche Minderdurchblutung des Gehirns – eindrücklich beschrieben. Vier Monate lang, heißt es bei Zweig weiter, blieb die rechte Hälfte von Händels riesigem Leib wie tot. Dann erholt sich der Komponist, langsam findet er seine Beweglichkeit zurück, nicht Dank ärztlicher Hilfe, sondern durch ein Wunder und Händels unbändigem Willen, „die Urkraft seines Lebens.“
Die meisten Schlaganfälle werden von einem Blutgerinnsel (Thrombus) verursacht, das ins Gehirn schwemmt und dort ein Gefäß verstopft. Heute können Schlaganfälle sehr gut behandelt werden. Es gibt Stroke Units, Spezialeinheiten für Schlaganfallpatientinnen und -patienten; die Ärztinnen und Ärzte verfügen über Medikamente, die Gerinnsel auflösen (Lyse); interventionell tätige Neuroradiologinnen und Neuroradiologen können den Thrombus mithilfe eines Katheters entfernen (Thrombektomie). Heute weiß man auch: Je schneller die Versorgung des Gehirns wieder hergestellt wird, desto weniger Hirnschäden und bleibende Behinderungen wie Lähmungen oder Sprachstörungen sind zu fürchten. Trotz dieser Fortschritte verursacht der Schlaganfall – mit 270.000 Betroffenen pro Jahr in Deutschland eine der größten Volkskrankheiten – noch immer die meisten bleibenden Behinderungen im Erwachsenenalter. Für diese Patientinnen und Patienten ist die Neurorehabilitation wichtig. Sie zielt darauf, den vom Schlaganfall getroffenen Menschen mit Maßnahmen wie Physio- oder Ergotherapie zu einem weitgehend unabhängigen Leben bei möglichst hoher Lebensqualität zu verhelfen.
Einer der führenden Experten auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Grundlagen der Neurorehabilitation ist Professor Dr. Ulf Ziemann, Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen des Universitätsklinikums Tübingen und Ko-Direktor des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung. Der Arzt und Wissenschaftler hat Erkenntnisse der modernen System-Neurobiologie konsequent umgesetzt und ein Verfahren entwickelt, das die Rehabilitation von Schlaganfallpatientinnen und -patienten zu revolutionieren verspricht: die transkranielle Magnetstimulation, kurz TMS, eine gezielte Aktivierung des Gehirns, um verbliebene Potenziale zu erwecken.
Die erstaunliche Plastizität des Gehirns
Ulf Ziemann vergleicht seine Methode und das, was sie im Gehirn bewirken soll, mit einem Symphonieorchester: Wenn ein Musikstück aufgeführt wird, muss jeder Musiker zur richtigen Zeit und am richtigen Ort die passenden Noten spielen. Ebenso präzise müssen die Milliarden Nervenzellen unseres Gehirns zusammenarbeiten. Wie die Musiker im Orchester agieren auch Nervenzellen nicht unabhängig und isoliert in ihren Regionen, sondern in dynamischen funktionalen Netzwerken, die sich über das gesamte Gehirn erstrecken. Erst dieses Zusammenspiel ermöglicht die jeweilige Hirnleistung. Ein Schlaganfall verursacht Schäden, die diese Netzwerke betreffen. „Deshalb sind die Ausfälle nach einem Schlaganfall als Netzwerkerkrankungen zu verstehen“, betont Ziemann. Daraus leitet sich seine Idee einer neuen Art von Neurorehabilitation ab: Das sogenannte residuale Netzwerk – die verbliebenen, vom Schlaganfall nicht zerstörten Nervenzellen – soll durch wiederholte elektrische Impulse gestärkt und dazu veranlasst werden, verloren gegangene Funktionen zu übernehmen. Hinzu kommt, dass die moderne Neurobiologie dem Hirn zwischenzeitlich eine große Plastizität bescheinigt – die lebenslange Fähigkeit, sich selbst zu regenerieren und neu zu strukturieren. Auf das Orchester übertragen bedeute das: „Es sind vielleicht zehn Geigen ausgefallen, das Orchester als Netzwerk kann das Stück dennoch weiter spielen – vielleicht jetzt aber mit einer stärkeren Betonung auf den Bratschen.“
Erstmals vorgestellt wurde die transkranielle Magnetstimulation im Jahr 1985 von dem englischen Wissenschaftler Anthony Barker, Universität Sheffield. Ulf Ziemann hat die Methode als junger Arzt in der neurowissenschaftlichen Forschung in den frühen 1990er Jahren kennengelernt und war sofort begeistert von der Möglichkeit, das Gehirn schmerzfrei von außen zu erreichen („transkraniell“ = durch den Schädel hindurch). Seither hat Ziemann das Verfahren stetig weiterentwickelt.
„Das Gehirn ist ein elektrisches Organ“, erklärt er die Grundlagen der TMS. Deshalb sei es für das physikalische Prinzip der elektromagnetischen Stimulation empfänglich: Eine am Schädel angelegte Magnetspule erzeugt ein kurzes Magnetfeld, daraufhin ändert sich der elektrische Zustand der Nervenzellen – sie depolarisieren – und es entsteht ein Aktionspotenzial. Das heißt, Informationen werden in den Nervenzell-Netzwerken in Form von elektrischer Erregung weitergeleitet. Die wiederholte Stimulation kann Netzwerkstrukturen des Gehirns und körperliche Funktionen verbessern, haben erste Studien zu den Effekten der TMS gezeigt. Besonders dann, wenn die TMS-Behandlung unmittelbar vor einer Physio- oder Ergotherapie erfolgt. Die TMS bereitet das Gehirn quasi auf den Übungsvorgang vor, es lernt dann besser, und die Patientin oder der Patient kann in der Rehabilitation schnellere und größere Fortschritte erzielen. „Bei manchen funktionierte das recht gut“, fasst Ziemann die bisherigen Erfahrungen mit der TMS zusammen – und schränkt ein: „Bei vielen anderen aber zeigte sich kein Benefit.“ Sein Ziel ist es, die Vorteile der Neurostimulation allen Betroffenen zuteilwerden zu lassen.
ConnectToBrain
Bislang verwendet man für die TMS einzelne Magnetspulen, die nur einen Punkt des Gehirns stimulieren können. Die Tübinger Forschenden entwickeln zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Finnland und Italien im Projekt „ConnectToBrain“ einen anwenderfreundlichen Helm, in den circa 50 Magnetspulen integriert sind. „Damit lässt sich nicht nur ein Punkt im Gehirn stimulieren, sondern mehrere über das ganze Hirn verteilte Knotenpunkte eines Netzwerkes“, erläutert Ziemann den hirnphysiologischen Vorteil. Der Europäische Forschungsrat fördert das ConnectToBrain-Projekt mit zehn Millionen Euro bis zum Jahr 2026. Dann soll der erste Helm in einer Klinik eingesetzt werden. Schon jetzt wird die neue Konstruktion in klinischen Pilotstudien an gesunden Menschen und Schlaganfallpatientinnen und -patienten erprobt.
Der Helm ist nicht die einzige Innovation der Tübinger Forschenden. Ulf Ziemann und sein Team haben die TMS zudem personalisiert und mit ergänzender Technik ausgestattet, damit die Stimulation an die individuellen Erfordernisse und an den aktuellen Aktivitätszustand des Gehirns angepasst werden kann. „Mit der herkömmlichen TMS wurden alle Betroffenen gleich behandelt, egal welche körperlichen Ausfälle vorlagen oder welcher Schweregrad bestand“, erläutert Ziemann. Auch um das, was gerade im Gehirn geschieht, habe man sich nicht gekümmert. Bevor die Tübinger Forschenden ihren Patientinnen oder Patienten den Helm aufsetzen, bestimmen sie zunächst den augenblicklichen elektrischen Status des Gehirns, den Brain State. Daraus schlussfolgern sie, wann und wo die TMS-Pulse appliziert werden sollten, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Den zerebralen Ist-Zustand ermitteln die Forschenden mithilfe der Elektroenzephalographie (EEG), mit der sich die elektrische Aktivität des Gehirns über Elektroden auf der Kopfhaut ableiten und aufzeichnen lässt. Aufgerüstet mit Rechnern, die große Datenmengen in Millisekunden analysieren können, und speziellen Auswertealgorithmen lässt sich mit der EEG der elektrophysiologische Status des Gehirns in Echtzeit bestimmen. Diese Kenntnis ist eine wichtige Voraussetzung für den therapeutischen Erfolg der TMS, weiß man doch aus der Hirnforschung, dass unterschiedliche elektrische Zustände des Gehirns unterschiedlich empfänglich für Stimulationen sind und es darauf ankommt, in der Dynamik ständig wechselnder Hirnaktivitäten genau den richtigen Zeitpunkt für die Anregung zu erwischen. „Jeder einzelne Betroffene bekommt sein individuelles und optimiertes Stimulationsmuster“, betont Ziemann. Das sei etwas Bahnbrechendes und verspreche sehr viel größere therapeutische Effekte als die herkömmliche TMS – nicht allein bei Schlaganfallpatientinnen und -patienten.
Als Netzwerkerkrankung gilt nicht nur der Schlaganfall. Auch auf den ersten Blick so unterschiedliche Leiden wie Alzheimer und Parkinson, Tinnitus und Epilepsie, Schizophrenie, Depressionen oder Schmerzzustände firmieren heute unter diesem Oberbegriff. „All diese Erkrankungen beruhen auf dysfunktionalen Netzwerken des Gehirns“, begründet Ziemann. Deshalb hofft er, auch diese Erkrankungen mit einer maßgeschneiderten TMS-Echtzeit-Therapie erfolgreich beeinflussen zu können. Dazu müsse die Technik noch weiterentwickelt werden – die Gemeinnützige Hertie-Stiftung stellt die dafür notwendigen Strukturen bereit und verbindet dabei die Grundlagenforschung eng mit der klinischen Anwendung. Ulf Ziemann wünscht sich, dass die TMS
schon sehr bald sehr vielen Betroffenen zugutekommen kann: „Dann wäre auch meine persönliche Vision einer Verbindung von Hirnforschung und neurologischer Praxis erreicht.“
Autorin: Claudia Eberhard-Metzger
Bild 1-3: © HIH, Fotograf: Fabian Zapatka